Wie lange dauert ein Krieg eigentlich wirklich?


Kowno „Ostland“ 1944

Im April 1944 wurde Richard nach Kauen (polnisch Kowno; litauisch Kaunas) ins sogenannte „Reichskommissariat Ostland“ (RKO) versetzt, das erst drei Jahre zuvor, im Juli 1941, kurz nach der Besetzung des Baltikums und Teilen Weißrusslands durch die Wehrmacht, entstanden war.

Das ``Ostland`` - dunkle Geschichte unter nationalsozialistischer Besatzung

30 Jahre nachdem sein Vater Heinrich als Soldat im ersten Weltkrieg hier im Baltikum (vermutlich Wilna) stationiert war, verschlug es Richard Göbel im April 1944 nun ebenfalls in die Region. Seine erste Station war Kauen (Kaunas/Kowno) in Litauen, dem südlichsten der drei baltischen Staaten. Hier in Kaunas, mit seinem rechtsseitig der Memel liegenden Zentrum bezog Richard Quartier. Der grosse Binnenhafen von Kowno steht im Schatten der mächtigen Vytautas Brücke, im Volksmund auch Aleksota-Brücke genannt, die das Zentrum mit dem linksseitigen Stadtteil Aleksota verbindet. Die Memel (Njemen, Neman, Niemen), die Jahrhunderte alte Verbindung von West und Osteuropa, ist der Strom, der Kowno auf seinem Weg von der Hochebene bei Minsk bis ins Kurische Haff durchfließt.

In der nationalsozialistischen Ideologie benannte man das Baltikum und Teile Weissrusslands kurzerhand in Ostland um.

Welche Aufgabe er für die Luftwaffe hier hatte, ist für mich bis heute nicht ermittelbar. In einem Brief vom April 1944 an seine Eltern schrieb er davon, dass er in einem Stabsgebäude untergebracht ist und als Adjutant fungiere. Mit einer längeren Anwesenheit in Kaunas rechnte er nicht. Auf einer seiner Feldpostkarten ist ein Feldpoststempel schwer lesbar, aber es könnte sich um L17149 handeln. Dieser gehörte 1944 der Ortskommandantur I/404 in Kaunas. Auf einem anderen Feldpostbrief aus dem Mai erkennt man „Übernahmekommando 2 der Luftwaffe“. Er selber verwendete mehrfach die FPN-Anschrift „Soldatenheim Kowno, Sonderstab Banse“. In einem Brief, den einer der von mir interviewten Luftwaffenhelfer noch nach über 60 Jahren in seinem Besitz hatte, schrieb Richard Göbel über seinen Weggang aus Bayreuth:

„Wie es mir geht, fragen Sie in Ihrem Brief. Nun Sie wissen ja, dass mir der Abschied von Bayreuth schwer fiel, wenn ich es mir auch nicht merken ließ. Die Frage nach dem Warum erübrigt sich und daher auch meine Antwort. Sie werden sie selbst beantworten können. Mit einer gewissen Wehmut ging ich von Bayreuth, aber auch mit dem stolzen Bewusstsein, mich nicht innerlich, am wenigsten äußerlich, vor denen rechtfertigen zu müssen, denen ich im Wege stand, und die mein Wollen und Tun nicht begreifen konnten.“

(Richard Göbel an einen ehemaligen LwH in Bayreuth)

Über die Jahre meiner Forschungen hinweg bleiben für seinen Einsatz im Ostland/Kowno aus meiner Sicht zwei mögliche Forschungsrichtungen übrig:

  • Richard Göbel wurde, aufgrund seiner bisherigen Tätigkeit bei der Flak, im Rahmen der Rekrutierung von baltischen Luftwaffenhelfern eingesetzt. Ab März 1944 war eine Dienststelle Nickel für die Verfügbarmachung ausländischer Jugendlicher für die Wehrmacht beschäftigt. Zum Betätigungsfeld gehörte explizit das Baltikum. Baltische Luftwaffenhelfer fanden tatsächlich auch Verwendung als Flakhelfer in der Wehrmacht. Dazu passt auch der „Sonderstab Banse“, der auf den Luftwaffengeneral Gustav Banse (1893 – 1965) hindeuten könnte. Dieser war seit Januar 1944 in die Führerreserve beim Reichsmarschall Hermann Göring bzw. dem General Karl-Heinrich Bodenschatz, Adjutant des Reichsmarschalls, versetzt. Hier fungierte auch General Walter von Unruh (Spitzname Heldenklau), der seit November 1942 „Sonderbeauftragter für die Überprüfung des zweckmäßigen Kriegseinsatzes“ war. In der Folgezeit bemühte sich Unruh Personal für Fronttruppen freizusetzen.
  • Richard Göbel war in der Ortskommandantur im Umfeld des Wehrmachtsbefehlshaber Ostland tätig. Für das „Ostland“ hatte diese Funktion bis April 1944 General Walter Braemer.  Kurz vor Richards Ankunft wurde dieser abgelöst durch den General der Panzertruppe, Werner Kempf. Allerdings schritt die Ostfront so schnell voran, dass die Stäbe von Kempf und General Theodor Scherer vom neuen Befehlshaber der Heeresgruppe Nord, Ferdinand Schörner abberufen wurden.Der General der Panzertruppe Werner Kempf (1886 – 1964) war vom 1. Mai 1944 bis 1. September 1944 Wehrmachtsbefehlshaber Ostland. Kempf hatte zuvor mit einer Armeeabteilung, die der Heeresgruppe Süd unterstand, am Unternehmen Zitadelle im Sommer 1943 teilgenommen und wurde für das Scheitern der deutschen Offensive und den erneuten Verlust von Charkow mitverantwortlich gemacht. General Kempf wurde von seinem Kommando entbunden und blieb die folgenden Monate in der Führerreserve der Luftwaffe. Ihm unterstanden als Oberbefehlshaber Ostland folgende Soldatn
    • Chef des Stabes:
      Generalmajor (der Flakartillerie) Felix Vodepp (1886 – 1967) (18. Juni 1941 – 12. August 1944)
    • Ia Oberstleutnant Ernst Schallehn (März 1943 bis August 1944)
    • IIa Oberstleutnant Wilhelm Sellin 10.41 bis 30.08 44

Für Variante eins würde die Funktion sprechen, für Variante zwei die zeitliche Komponente (April/Mai 1944) sowie Richards Beschreibungen, dass er mit seinen Aufgaben in der „Luft“ hing.

General Gustav Banse

General Werner Kempf

Lexikon der Wehrmacht, Werner Kempf

General Theodor Scherer 1942

Quelle: Bundesarchiv, Bild 101I-004-3633-39A / Muck, Richard / CC-BY-SA 3.0

General Ferdinand Schörner vermutlich 1941

Bundesarchiv, Bild 183-L22898 / Scheerer / CC-BY-SA 3.0

Anfang Mai 1944 schrieb Richard Göbel an seine Eltern: „Unsere Arbeit läuft eigentlich erst am Montag [8. Mai] recht an, bis dahin haben wir noch ziemlich dienstfrei. Morgen werde ich zum ersten Male hoffentlich zum Wehrmachtsgottesdienst kommen und morgen Nachmittag bleibe ich hier im Bau um meine Sachen in Ordnung zu bringen und in der restlichen Zeit werde ich für mich arbeiten. Daher habe ich das Schreiben auf den heutigen Tag verlegt und hoffe auch damit fertig zu werden. Gestern Abend war ich in der Stadt um ein Konzert zu hören. Prof. Drews aus Köln sollte ein Beethoven-Konzert geben.  (…) Aber ich hatte ganz angenehme Gesellschaft und es kam eine sehr angeregte Unterhaltung in Gang. Ich staunte nur über die Meinungen meines Kameraden zum engeren und weiteren Zeitgeschehen. Wie wird auch heute noch selbständig gedacht. Mein Kamerad passt so gar nicht in die Kategorie der Wiederkäuer und Schwätzer. Wirklich wohltuend solch eine Begegnung!“

Im Laufe des Jahres 1944 tauchen immer häufiger in Richards Briefen kritischere schriftliche Äußerungen zum Zeitgeschehen, trotz Zensurgefahr, auf.

Der Juni 1944 war ein wesentlicher Wendepunkt im Kriegsgeschehen. Am 6. Juni landeten die Alliierten in der Normandie und kurz darauf, am 22. Juni, brach die grosse Offensive der Roten Armee  (Operation Bagration) im Osten los. Die Heeresgruppe Mitte der Deutschen Wehrmacht wurde vernichtend geschlagen. An der Ostfront klaffte jetzt ein riesiges Loch. Der Untergang der Heeresgruppe Mitte im Sommer 1944 war in seinen militärischen Auswirkungen und Konsequenzen weit dramatischer, als der verlorene Kampf um Stalingrad. Richard Göbel muss mit seinen Kameraden Hals über Kopf, die Memel flußabwärts, in Richtung Tilsit geflohen sein. Mitte Juli 1944 meldete er sich schließlich von dort bei seinen Eltern.

Zur traurigen Geschichte Kownos gehören auch die Verbrechen an den einheimischen Juden nach der Besetzung des Baltikums durch die Wehrmacht im Juli 1941. Die alten Forts in Kowno waren ab Ende 1941 auch Orte des Mordes an deportierten deutschen Juden aus dem Reichsgebiet. Im Herbst 1941 war das grosse Ghetto in der Stadt entstanden. Einen Exkurs über dieses dunkle Thema finden Sie hier [Pogrome im „Ostland“].

Das seit dem Herbst 1941 bestehende jüdische Ghetto Kownos,wurde Anfang Juli 1944 von der SS niedergebrannt. Die letzten 6.000 Juden des Ghettos Kowno, wurden auf dem Rangierbahnhof in Waggons gepfercht oder mit Barken über die Memel abtransportiert. Dazu schreibt Helene Holzman: „Am 8. Juli waren ungefähr 1.500 Leute aus dem Ghetto in Barken verladen worden und die Memel heruntergefahren. Der Ghettokommandant Göcke hatte ihnen eine seiner zynischen Reden gehalten: Wir werden euch vor den Russen retten und euch mitnehmen. Die Barken waren noch in Georgenburg gesehen wurden. Später erfuhr man, daß die Barken acht Tage unterwegs gewesen waren, ehe sie an ihrem Bestimmungsort Stutthof [KZ Stutthof] ankamen. Einige Tage später ein zweiter Transport, auch auf dem Flusse. (…) Der nächste Transport ging durch die Stadt zum Bahnhof. (…) Sie zogen über die belebte Brücke [Vilijabrücke] und durch die ganze Stadt. In der Alstadt versuchte einer, in ein Haus zu flüchten. Er wurde auf der Stelle erschossen. Es war nur geringfügige Bewachung. Wären alle zugleich gelaufen, niemand hätte sie mehr einfangen können. Aber sie wußten, die Türen der Litauer sind ihnen verschlossen, und die herzlosen Bemerkungen, die die Vorübergehenden über den todestraurigen Zug machten, bestätigten diese Vereinsamung. Sie gingen in breiten Reihen, immer zehn nebeneinander.“ [1]

Von der SS niedergebranntes Ghetto in Kowno/Kaunas Anfang Juli 1944

Quelle http://vilnews.com/2012-12-18271

Es stellt sich natürlich die Frage, was Richard Göbel vom Ghetto in Kowno und der Evakuierung der letzten überlebenden Juden persönlich mitbekommen hat. Aus seinen Briefen ist dazu nichts zu entnehmen.

Die Leidenswege der Menschen des Ghettos Kowno endeten über die Reichsbahn oder die Memel in den Konzentrationslagern Stutthof, Kaufering und Dachau. Im Ghetto selber hatten sich in Kellern und Kanalisation noch etwa 2.000 Menschen versteckt. Das Niederbrennen des Ghettos durch die SS haben nur etwa 100 Bewohner überlebt. Viele erstickten elendig in ihren Verstecken. Am 1. August 1944 war Kowno vollständig in sowjetischer Hand.

Auf Verlangen der Wehrmacht wurde das Gebiet nördlich der Memel, in Erwartung eines Angriffs auf Tilsit-Memel, Hals über Kopf evakuiert. Lange Trecks zogen über die Luisenbrücke bei Tilsit und die Fähren bei Ruß. Zu Tausenden standen die Viehherden noch auf den Feldern und Weiden. Doch noch hielt die Front in Litauen.

Am 20. Juli 1944 schlug das Attentat auf Hitler fehl. Um 12:42 war im Führerhauptquartier „Wolfsschanze“ eine von Oberst Claus Graf von Stauffenberg deponierte Bombe explodiert. Hitler überlebte den Anschlag wie durch ein Wunder nahezu unverletzt. Der engere Kreis der Attentäter um Stauffenberg wurde noch am Abend des gleichen Tages in Berlin erschossen.

Vom 25. August 1944 stammte Richards nächste Ortsmeldung, er befand sich „Unterhalb von Tilsit auf einem  Kahn“. „Es ist eine rechte Zeit der Erholung! Nirgends hätte ich es so antreffen können wie hier. Aber ich lasse die Zeit keineswegs nutzlos verstreichen. Meine Hauptbeschäftigung ist die mit dem gr. N.T. [Anm. griechisches Neues Testament]. Auf der anderen Seite des Damms habe ich ein kleines Bratkartoffelverhältnis und Milch fließt in Strömen. Könnt ich Euch doch nur täglich 2 Liter frischer Milch bringen! Vor Mitte bis Ende September rechne ich schon gar nicht mit meiner Auflösung. – Die Angriffe habe ich gut überstanden, – Sonst keine Neuigkeiten.“

Die scheinbare Idylle, vermutlich auf einem der größeren Memelkähne, passt so gar nicht ins allgemeine Bild des militärischen Chaos und Zusammenbruchs an West- wie Ostfront. Am 5. September legte Richard, mit einigen Kameraden, mit seinem Kahn in Tilsit ab. Am 25. September meldete er sich aus Brandenburg, ca. 25 km südwestlich von Königsberg. „Ein kleiner Fluss [Frisching] mündet hier im Haff, auf dem wir bisweilen paddeln und rudern. Einen schönen weiten Blick hat man über das ostpreussische Land und über das Haff, zumal bei solch klarem, sonnigen Herbstwetter wie heute. Tagsüber ist es ja warm, aber die Nächte sind schon kalt und besonders empfindlich spüren wir die Kälte auf unserem Kahn. Mitte der Woche rechnen wir mit der Weiterfahrt. Ziel: Schneidemühl. Da könnt Ihr Euch selbst ausmalen, wie lange ich noch hier bin.“

Anfang Oktober lag Richard Göbel, wahrscheinlich immer noch mit seinem „Dampfer“ oder Kahn, in Usch bei Schneidemühl. Er wusste bereits, dass er im Laufe des Oktober vermutlich wieder „zu seinem alten Haufen“ kommen sollte und sich das Sonderkommando Banse auflösen würde. Am 10. Oktober fuhr er per Zug von Schneidemühl bis München-Ost und von dort weiter nach Rosenheim-Stephanskirchen „zum Stab“. Vom 12. – 17. Oktober hatte er Urlaub und war bei seiner Frau Herta und seinem Sohn Dieter zu Besuch in der Porta-Westfalica. Über Berlin und Bayreuth fuhr er schließlich ins Sudentenland, nach Brüx. Während er sich auf dem Weg nach Brüx befand, wurde Tilsit am 20. Oktober Frontstadt.

[1] Helene Holzman; Dies Kind soll leben – Die Aufzeichnungen der Helene Holzman 1941 – 1944; Seiten 278

Richard Göbel mit Sohn Dieter und Bruder Heinz Okt. 1944

Copyright Tom Göbel


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