Wie lange dauert ein Krieg eigentlich wirklich?


Philipps Universität Marburg 1939

"Er hat selbst in der Verhandlung durch den Dreierausschuss noch keinerlei Reue oder Einsicht gezeigt, vielmehr einen denkbar schlechten Eindruck gemacht. Er hat sich nicht gescheut vor dem Dreierausschuss zu wiederholen, dass er die fraglichen Worte des Führers in der Rede vom 26.9.1938 nicht für richtig halte, und dass er es als Unrecht empfinden müsse, dass Pfarrer Niemöller ins Konzentrationslager gebracht worden sei, er glaube auch nicht, dass Pfarrer von der Kanzel gegen den Staat hetzen würden. Die Gesamthaltung des Beschuldigten zeigt klar, wie er zu Führer und Volk steht." - Dreierausschuss der Philipps Universität Marburg über Richard Göbel 1939

In Münster nur ein Verweis, in Marburg Relegation

Nach seinem letzten Semester 1938 in Bethel, arbeitete Richard Göbel in den Semesterferien wieder als Werkstudent in der GHH Zeche Sterkrade. Seine öffentlich angebrachte Kritik am Staat brachte ihm eine Haftstrafe ein. Bereits in der Urteilsbegründung hatte das Gericht darauf hingewiesen, dass aufgrund der Vorkommnisse und offensichtlichen Stellung zum nationalsozialistischen Staat, ein Studium undenkbar sei. Trotzdem ging Richard im April 1939 nach Marburg, verschwieg bei der Immatrikulation seine Verurteilung w/Heimtücke.

Es ist die Pflicht des Dreierausschusses darüber zu wachen, dass die Universität und ihre Mitglieder im einheitlichen nationalsozialistischen Geiste handeln. Es erscheint dem Ausschuss daher als eine Selbstverständlichkeit, dass ein Student nach solchen Handlungen und bei einer solchen Einstellung, wie sie die Verhandlung vor dem Dreierausschuss bei dem Beschuldigten gezeigt hat, für immer aus der Hochschule ausgeschlossen werden muss.“

(private Unterlagen und Bestand H4/39 – Urteil des Dreierausschuss der Uni Marburg)

Marburg gehörte zu den Universitäten, die sich der Aufnahme von durch den Staat disziplinierter und relegierter Studenten nicht gänzlich verweigerte. Der Dekan der Philipps Universität, Heinrich Frick, gab sogar aktive Ratschläge, wie eine Immatrikulation am besten zu bewerkstelligen sei. 1933/34 war Hans von Soden zum Dekan der Theologischen Fakultät Marburg berufen worden. Der zweite wichtige evang. Theologe im Marburg jener Zeit war Rudolf Bultmann. Beide versuchten die Fakultät dem politischen Druck so weit als möglich zu entziehen um die Wissenschaft in den Mittelpunkt ihrer Arbeit zu stellen.

Richard Göbel am 5. Juli 1939 - "Mein Studium geht zu Ende ..."

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Doch als Richard im April 1939 nach Marburg kam, hatte die Theologische Fakultät  gerade ein stürmisches Winteresemester erlebt. Im Mittelpunkt der Unruhen standen ehemalige Berliner Theologiestudenten, die nach dem Sommersemester 1937 in der Hauptstadt-Universität wegen des Besuches von Bekennende Kirche (BK) Ersatzveranstaltungen relegiert worden waren. Es handelte sich um die Studenten Bernhard Schöne, Siegfried Anz und Hermann Andrä. Im Sommer 1937 hatten die drei, trotz Relegation 1937, an der Universtität in Marburg weiter studiert.

In einer folgenden Stellungnahme des Rektors der Berliner Universität zur Disziplinarsache gegen Schöne, Anz und Andrä heißt: „Die von den drei Angeschuldigten in dem Schreiben an den Rektor erhobenen schweren objektiv unwahren Anschuldigungen gegen Staat und Partei sind nach Ansicht des Disziplinargerichtes auf eine Unwissenheit und Unreifheit der Angeschuldigten nicht jedoch auf eine staatsfeindliche Einstellung zurückzuführen. Waere letzteres der Fall, so waere gegen die drei Angeschuldigten nur die schwerste, dem Disziplinargericht zur Verfügung stehende Strafe, der Ausschluss vom Studium an allen deutschen Hochschulen zu verhängen gewesen. (…) Nach Ansicht des Disziplinargerichts handelt es sich bei den Angeschuldigten aber um drei junge Leute, die Kreisen in die Hände gefallen sind, welche es als ihre Aufgabe ansehen, durch schüren des Kirchenstreites Unruhe und Zwiespalt in die deutsche Volksgemeinschaft zu bringen. (…) Die Strafe der Entfernung von der Universität Berlin soll den Angeschuldigten aber ein eindringlich vor Augen führen, dass sie sich auf dem Wege, den sie beschritten haben, nicht zu dem, von jedem deutschen Studenten zu erstrebenden Ziel, zum Wohl der deutschen Volksgemeinschaft etwas leisten zu können, kommen werden. Es soll ihnen noch einmal Gelegenheit gegeben werden, sich zu besinnen und umzukehren. Ergreifen sie diese Gelegenheit nicht, dann haben sie es allein sich selbst zuzuschreiben, wenn sie als Staatsfeinde und Volksschädlinge behandelt und bestraft werden.“ [1]

Zitat oben im Orginal (Privatbesitz)

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Zentrale Figur war Bernhard Schöne (geb. 16.12.1913, gefallen 31.5.1944 als Leutnant), der intensiv mit Heinz Dahlmann befreundet war. Dahlmann wiederum gehörte auch schon wie Richard Göbel zu jenen Studenten, die wegen des Besuchs der BK-Ersatzveranstaltungen 1936 in Münster mit einem Verweis belegt worden waren. In Marburg schlossen sich die Berliner Studenten der Marburger Studentengemeinde an. Diese wurde von Heinz Dahlmann  (26.6.1914 – vermisst in Stalingrad), geführt, weitere Mitglieder Siegfried Langer, Fritz Egel, Günther Sieben, Gerhard Stappenbeck, Hans Lipps  und Gerhard Wackerbarth (8.4.1917 – 19.12.1941 – gefallen beim Sturm auf die Festung Sewastopol).

Dekan Heinrich Frick gab den Studenten zu verstehen „besonders sorgsam das ihnen entgegen gebrachte Vertrauen durch ihr Verhalten [zu] erwidern.“[2] Spätestens ab 1937 war es jedermann offensichtlich, dass es häufig einen Zusammenhang zwischen dem Besuch von Seminaren und Ersatzveranstaltungen außerhalb der Universitäten einerseits und einer ablehnenden Haltung gegenüber dem NS-Staat andererseits gab.[3] Die Bekennende Kirche-Studentengruppen kamen etwa ab 1937 verstärkt ins Fadenkreuz der übergeordneten Partei- und Staatsstellen. Am 29. August 1937 hatte Heinrich Himmler, Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Inneren, die Anordnung, „die von den Organen der Bekennende Kirche errichteten Arbeitsgemeinschaften und die Lehr-, Studenten- und Prüfungsämter aufzulösen.“  veröffentlichen lassen. Einer der wichtigsten und zugleich gefährlichsten Männer des NS-Regimes hatte sich eingeschaltet und klar Stellung bezogen. Mit dem „Himmler-Erlass“ erfolgte das Verbot jeglicher Art der theologischen Ausbildung durch die Bekennende Kirche.

Uni Marburg an Gestapo Düsseldorf

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Wie gefährlich sich die Lage an der Uni Marburg inzwischen im Frühjahr 1939 entwickelt hatte, zeigte der Bericht der Gestapo Kassel vom 21. Juni 1938: „In Ergänzung des Ermittlungsberichtes vom 2.6.1938 über die Wühl und Hetzarbeit der BK innerhalb des hiesigen Stapobezirks, insbesondere einer Studentengruppe der BK an der Universität in Marburg, wird im nachstehenden lediglich die Zusammensetzung des Arbeitsausschusses und der Kleinkreise beschrieben, nachdem deren Zweck und Aufgabe insoweit hinreichend klargelegt ist. Nach nunmehr im Wesentlichen abgeschlossenen Ermittlungen besteht der Arbeitsausschuss nicht nur aus den aktivsten der BK-Studenten, sondern Darüber hinaus gehören ihm Vertreter der Deutsch Christlichen Studenten Vereinigung und der deutsch christlichen Studentinnen Bewegung an. (…) Nachdem die Studentengruppe der BK unter Leitung von stud. Theol. Wackerbarth. (…) durch die Stapo Kassel am 3.12.1937 aufgelöst und verboten worden war, ist nach dem Ergebnis der Ermittlungen in der Weiterführung der jetzigen Kleinkreise ein Verstoss gegen das am 3.12.1937 ergangene Verbot erfolgt[4]

In diese außerordentlich aufgeheizte Stimmung kam nun Richard Göbel, der sich öffentlich staatsfeindlich geäußert hatte, an die Universität. Bei der Einschreibung hatte er seine Haft verschwiegen. Inzwischen hatte die Gestapo von Richards Relegation Bericht erstattet. Die Staatspolizeistelle Kassel meldete an das Geheime Staatspolizeiamt Berlin; z.K. Gestapo Düsseldorf, dass der Student Richard Göbel wohnhaft Ockershäuserallee Nr. 20, Marburg, an der Philipps Universität eingeschrieben war: „Göbel hat sein Studium der Theologie an der Uni. Marburg fortgesetzt. Bei der Immatrikulation verschwieg er seine Vorwürfe. Er wurde deshalb seitens der Uni. vorgeladen, kam dieser Aufforderung jedoch nicht nach, so dass ihm die zwangsweise Vorführung angedroht wurde. Eine Entscheidung über eine etwaige Relegierung von der Hochschule ist bisher nicht ergangen. Falls die Überwachung des Göbel sachdienliches ergeben sollte, werde ich unaufgefordert berichten.“ gez. i.V. Augustin [5]

Der Dreierausschuss der Universität Marburg bestand im Frühjahr 1939 aus dem Vorsitzenden und Prorektor Prof. Dr. Becher, dem Dozenten Dr. Scharlau, als Vertreter der Dozentenschaft und dem Referendar Werner Stückrath, als Vertreter der Studentenschaft, sowie dem Landgerichtsdirektor Dr. Kieckebusch. Richard Göbel erschien am 26. Juni 1939 vor dem Ausschuss, bereits am 8. Juli folgte das schriftliche Urteil. Richard war sich seiner Situation sehr bewusst, in einem Brief an seine Eltern rechnete er bereits mit der kurzfristigen Einberufung zur Wehrmacht. Im Juli 1939 liefen schon die Kriegsvorbereitungen an.

Richard Göbel führte sein weiterer Weg nun nach Berlin

[1] EZA Berlin 5105/09 Signatur 50/104 (Stellungnahme Dreierausschuss der Universität Berlin)

[2] Andreas Lippmann; Marburger Theologie im Nationalsozialismus; Seite 291 und Scherffig Band III Seite 52

[3] Siegele-Wenschkewitz/Nicolaisen – Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus; Seite 261

[4] in Landesarchiv NRW Abteilung Rheinland RW 58 (Gestapo); Akte 1608

[5] Geheime Staatspolizei Kassel, Landesarchiv NRW, Bestand II B2 -2039/39  an das Geheime Staatspolizeiamt in Berlin und in Kopie an Gestapo Düsseldorf am 24. Juni 1939



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