Wie lange dauert ein Krieg eigentlich wirklich?


Die Weimarer Republik

„Wer, zwischen 1900 und 1910 geboren, die Stabilität des Kaiserreichs höchstens als Kindheitserfahrung, dagegen Krieg, Revolution, Nachkriegswirren und Hyperinflation der Jahres 1923 als entscheidene Prägung erlebt hatte, der war schwerlich von der Zukunftsfähigkeit einer bürgerlichen Zivilgesellschaft zu überzeugen.“[8]

Zusammenbruch der politischen Ordnung nach Kriegsende

„Patriotismus ist Liebe zu den Seinen; Nationalismus ist Hass auf die anderen“

(Richard von Weizsäcker)

Der Übergang vom Kaiser Reich in die Weimarer Republik war von politischem Chaos gekennzeichnet. Dazu trug primär der Friedensschluß von Versailles 1919 bei, dessen im wesentlichen von Frankreich diktierte Reparationszahlungen, eine tiefe Kluft in der deutschen Gesellschaft hinterliessen. Zu sehr hatte man sich in Deutschland auf die Aussagen Woodrow Wilsons („14 Punkte Programm“) von 1918 verlassen, für einen gerechten Friedensschluß zu bürgen. Dazu kam, dass politische Extremisten ihre gegenseitigen Ansichten auf der Straße austrugen. Die Regierung versuchte mit Hilfe der Reichswehr und rechtsgerichteter Freikorps, der Lage Herr zu werden. Nach der verfassungsgebenden Versammlung von Weimar im Sommer 1919, war der Beginn des Jahres 1920 von der Inkraftsetzung der Bestimmungen des Versailler Vertrages gekennzeichnet. Die USPD hatte sich inzwischen mit der KPD vereinigt, Massendemonstrationen in Berlin und Streiks der Eisenbahner und Bergarbeiter  führten zur Verhängung des Ausnahmezustandes. Bis Ende Februar entspannte sich die Lage in Berlin und in den Zechen des Ruhrgebietes wieder. 

Die rechts-völkischen Verbände blieben davon jedoch unbeeindruckt. Im März 1920 kam es zum „Kapp-Lüttwitz Putsch“, kurz „Kapp-Putsch“. Die Gegenmaßnahmen des Reichswehrministers Gustav Noske erwiesen sich als unzureichend, als am frühen Morgen des 13. März paramilitärische Truppen in Berlin ein rückten. Erklärtes Ziel des Putsches war nichts weniger als der Sturz der demokratisch gewählten Regierung und die Wiedereinführung der Monarchie. Unterstützer fanden sich genug, insbesondere in dem aktiven Reichswehrgenerals und Kommandierenden des Reichswehrgruppenkommandos I (Berlin), Walther Freiherr von Lüttwitz. Von Dresden aus forderte die geflüchtete Regierung die Bevölkerung zum Widerstand auf. Friedrich Ebert: „Putschversuche gewissenloser Meuterer, hinter denen kein ernster Politiker steht, haben die Regierung veranlaßt, zwecks Vermeidung von Blutvergiessen Berlin zu verlassen. Die verfassungsmäßige Regierung hat ihren Sitz in Dresden und ist die einzige, die das Chaos verhindern kann.“[1] Es waren die Gewerkschaften, die die Regierung nun offen unterstützen. Der von Grund auf dilletantisch geplante Putsch scheiterte schließlich nach nur fünf Tagen, da sich keine breite Masse zur Unterstützung fand. Der Putsch hatte gezeigt, dass Gewerkschaften, SPD und Kommunisten gegen die alten Eliten bestehen konnten, wenn sie gemeinsam agierten.

Stadtarchiv Oberhausen; General Anzeiger Oberhausen vom 24. März 1920

Copyright Stadtarchiv Oberhausen

Anders als in Berlin, liefen an Rhein und Ruhr die Ereignisse im März 1920 in eine völlig andere Richtung. Während in der Reichshauptstadt mit Hilfe des von den Gewerkschaften unterstützten Generalstreiks der Putsch beendet werden konnte, wurde von Seiten der radikalen Linken der Generalstreik im Ruhrgebiet in ein Kampfinstrument umgewandelt. Arbeiter bewaffneten sich unter der Führung kommunistischer „Spartakisten“ und bildeten die sog. „Rote Ruhrarmee“ als bewaffneten Arm einer proletarischen Massenbewegung. Wie die Freikorps rekrutierte sie sich aus fronterfahrenen Kämpfern des Arbeitermilieus. Das Ruhrgebiet wurde für mehrere Wochen zum blutigen Kampfgebiet.

Rote Ruhrarmee Essen 1920 ((c) Ruhr Museum)

Nachdem die „Rote Ruhrarmee“ Essen, Oberhausen, Elberfeld und Düsseldorf erobert hatte, rückte sie zeitweise bis Hamm, Werl und Unna vor. Ende März 1920 wurde nahezu das gesamte Ruhrgebiet von der inzwischen 50.000 Mann starken „Armee“ kontrolliert. Der erste Weltkrieg hatte viele entwurzelte Nomanden in die Stadt gebracht. Die Enttäuschungen und die Verbitterung, die sich bei den Arbeitern in den vergangenen 1½ Jahren angesammelt hatten, wurden durch immer neue Gerüchte befeuert, Greueltaten auf beiden Seiten, Spartakisten und „lichtscheues Gesindel“ allenorten.[2] Anna Göbel in ihren 1963 verfaßten Lebensaufzeichnungen: „In der Zeit, als die Spartakisten hier ihr Unwesen trieben, wagte es kein Mann, allein zum Arbeitsplatz zu gehen, sie taten sich immer mit mehreren zusammen. Die damalige Regierung war machtlos.“ Auch wenn Oberhausen, Osterfeld und Sterkrade keine Schauplätze harter und blutiger Kämpfe zwischen Reichswehr, Freikorps und „Roter Ruhrarmee“ gewesen waren, waren die Städte logistisch wichtige Aufmarschgebiete.Die politischen Auswirkungen der März- und Aprilkämpfe von 1920 waren tiefgreifend.

Die gewaltbereite Rechte mußte nach dem Scheitern des Kapp-Putsches erkennen, dass militärische Kommandounternehmen und Putschversuche gegen eine kampfbereite Arbeiterschaft keine Aussicht auf Erfolg haben konnte. Kommunisten und Spartakisten wiederum mußten erkennen, dass die alten Eilten, getragen vom Bürgertum, unterstützt von Reichswehr und Freikorps, mit größter Brutalität gegen Aufrührer vorgingen.

Die einsetzende Inflation führte dazu, dass zu Beginn des Jahres 1922 die Mark noch etwa 1/50 ihres Vorkriegswertes besaß. Die 1922/23 einsetzende Hyperinflation schädigte aber nicht alle Bevölkerungsschichten gleich stark. Betroffen waren insbesondere die Besitzer von Kriegsanleihen, Sparguthaben, Lebensversicherungen und Kapitalrenten – also hauptsächlich weite Teile des Mittelstandes und der Arbeiterschaft, die ihre Ersparnisse direkt oder indirekt dem Staat zur Verfügung gestellt hatten. Die Geldentwertung vollzog sich in stetigen Schüben und die Zeitbombe der aufgelaufenen Verschuldung explodierte schließlich um die Jahreswende 1922/23, als die politisch angeschlagene Republik eine finanzielle Stabilisierung dringend nötig gehabt hätte.[4]

Angesichts der Entbehrungen und Verarmungen der Inflationszeit von 1920 bis Anfang 1923 wuchs die Sehnsucht nach einer für alle Menschen gerechten Ordnung und Wiederherstellung eines moralisch integeren Gesellschaftsrahmens. „Politischer Radikalismus und Esoterik, religiöse Erweckungsbewegungen und extremer Nationalismus, kommunistische Heilsutopien wie jugendbewegte Naturromatik fanden in diesen Jahren Zulauf wie nie.“[5]

Heimat der Familie Göbel ab 1926, die Brack Str. 45 in Osterfeld

brackstr-45

Heinrich und Anna Göbel wohnten seit 1911 in der Provinzial Str. 94 (heute Sterkrader Str. 203) in Osterfeld. Auch die ersten Jahre nach dem Krieg war die kleine Wohnung Mittelpunkt des Familienlebens. Nach der Rückkehr Heinrich Göbels aus dem Krieg, kamen 1919 Tochter Hanni und 1921 Sohn Heinz zur Welt. Mit dem beruflichen Wiedereinstieg des Vaters bei der GHH und den verbesserten wirtschaftlichen Bedingungen für die nun fünfköpfige Familie Göbel, folgte 1926 der Umzug von der Provinzial Str. 94 in die Brack Str. 45 in (Oberhausen-)Osterfeld.

Die Regierung des neuen Reichskanzlers Wilhelm Cuno war noch keine zwei Monate im Amt, als am 11. Januar 1923 die Besetzung des Ruhrgebiets durch Belgier und Franzosen begann. Insbesondere die Kohlevorräte und die Stahlindustrie des Ruhrgebiets waren für Frankreich von hohem wirtschaftlichem und strategischem Interesse, die versäumten Reparationsleistungen ein willkommener Auslöser zur Besetzung. Über das Ruhrgebiet wurde sofort der Ausnahmezustand verhängt. Die Republik wurde infolge der außenpolitischen Bedrohung wiederum an den Rand des inneren Zusammenbruchs geführt. Der Aufruf von Reichspräsident und Reichskanzler vom 9. Januar wurde auch im Oberhausener Generalanzeiger veröffentlicht. „ Mitbürger! Gestützt auf militärische Gewalt, schickt sich fremde Wilkür an, erneut das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes zu verletzen; abermals erfolgt ein Einbruch unserer Gegner in deutsches Land. Die Politik der Gewalt, die seit dem Friedensschluß die Verträge verletzt und die Menschenrechte mit Füßen tritt, bedroht das Kerngebiet der deutschen Wirtschaft, die Hauptquelle unserer Arbeit, das Brot der deutschen Industrie und der gesamten Arbeiterschaft. (…) Nun sollt ihr für das deutsche Vaterland das harte Los der Fremdherrschaft erleiden. Harrt aus in duldender Treue, bleibt fest, bleibt ruhig, bleibt besonnen! Im Gefühl unsers guten Rechts tretet in ernster Würde den fremden Gewalthabern entgegen, bis der Morgen tagt, der dem Recht seinen Platz, auch die Freiheit gibt. Wir aber geloben euch Treue und Hilfe. Unsere rastlose Sorge wird es sein, und nichts soll ungeschehen bleiben, die Dauer der Fremdherrschaft abzukürzen, eure Not zu lindern und den Weg zu einem wahren Frieden zu finden. An deutschem Gemeinsinn und opferfreudiger Vaterlandsliebe werden die fremden Machtpläne zerschellen. Haltet allzeit hoch die deutsche Einheit und unser gutes Recht“[6]

Reichskanzler Wilhelm Cuno und seine Minderheitenregierung proklamierten den „passiven Widerstand“, der das Wirtschaftsleben an Rhein und Ruhr weitgehend lahm legte. Beamten wurde verboten, Befehle der Besatzer zu befolgen.

Am 12. Januar quartierten sich 35 durchziehende französische Soldaten im Wirthaus L.B. in der Provinzialstrasse ein. Am 15. Januar brachte die Tageszeitung folgende Notiz: „Im Laufe des heutigen oder morgigen Tages ist die Besetzung Osterfelds mit größeren Truppenkörpern zu erwarten. Es ergeht die eindringliche Mahnung an alle Bürger, Ruhe und Besonnenheit zu bewahren. Die damit verbunden Quartierlasten sind nicht zu umgehen. Das städtische Einquartierungsamt wird alles in die Wege leiten, den Druck zu mildern und die Ansprüche erträglich zu gestalten. An die Eltern ergeht die dringende Bitte, die Kinder zu Hause zu belassen, an alle Mitbürger, die Fenster geschlossen zu halten und den Schmerz der Stunde mit ernster Würde und als echte Deutsche zu ertragen.“[7]

Doch die folgenden Monate waren von schweren Zusammengestössen zwischen Besatzern und Besetzten gekenzeichnet. Im  Mai 1923 wurde in Osterfeld die Eisenbahnbrücke über den Rhein-Herne Kanal mit einer gewaltigen Explosion gesprengt. Der Sprengstoffanschlag brachte den Betrieb auf dem Osterfelder Bahnhof fast vollständig zum Erliegen und blockierte die für den Kohletransport wichtige Strecke von Osterfeld nach Oberhausen-West. Wie  überall im Ruhrgebiet versuchte die Besatzungsmacht, diesen Widerstand durch Härte zu brechen, tausende Eisenbahner wurden mitsamt ihren Familien ausgewiesen, so auch in Oberhausen und Osterfeld. Die GHH entzog sich dem Zugriff der Besatzungstruppen, indem sie den Firmensitz zur MAN nach Nürnberg verlegte.

Der passive Widerstand mußte schließlich aufgegeben werden. Mit dem Tag der Ankündigung der Beendigung des Ruhrkampfes wurde der Ausnahmezustand im Reich erklärt. Die Aufgabe des passiven Widerstandes war für die links- und rechtsradikalen Kreise das Startsignal für neue Angriffe gegen die neue Regierung unter Gustav Stresemann. In Bayern gipfelten diese Entwicklungen schließlich am 9. November 1923 mit der Absicht eines Marsch auf Berlin. Anhänger einer kleinen Splittergruppe mit Namen NSDAP mit ihrem Anführer, Adolf Hitler, kamen aber über den Odeonsplatz nicht hinaus. Unterstützt wurden Sie vom ehemaligen Reichswehrgeneral Erich Ludendorff Im Feuer der bayerischen Polizei starben einige Verschwörer im Kugelhagel. Adolf Hitler überlebte und flüchtete. Nach seiner Verhaftung und einem milden Prozess wurde er nach Landsberg in Festungshaft verbracht.

Videodokument über die Ruhrbesetzung

Zwar verschwand war durch die wirtschaftliche Erholung die politische Radikalität der Jahre bis 1923 ab Mitte der zwanziger Jahre von der Straße, doch die „Kriegsschuldlüge“ bestimmte das nationale Klima weiterhin. Sie blieb ein gängiger Ausdruck für die hart empfundene Demütigung Deutschlands durch die Alliierten, auch wenn eine Annährung über Stresemanns Außenpolitik stattgefunden hatte.Viele Zeitgenossen der Weimarer Republik waren mit dem monarchistisch-vaterländischen Gepräge des wilhelminischen Zeitalters aufgewachsen, mit Kaiser-Geburtstagen, Reichsgründungs- und Sedanfeiern, mit Truppen und Flottenparaden, mit Siegesfeiern und Dankgottesdiensten zu den siegreichen Schlachten des Ersten Weltkrieges. Die Weimarer Republik verzichtete ihrerseits weitgehend auf diese Selbstdarstellungen, Feiern glichen eher nüchtern-rationalen Honoratiorenveranstaltungen. Die Politik der Weimarer Republik blieb deshalb für viele ihrer Bürger ein verdecktes Kartenspiel, mit ständig wechselnden Regierungen und 35 Parteien. Politik spielte sich hinter verschlossenen Türen und undurchschaubaren Gremien ab, die Ergebnisse nahm man zur Kenntnis.

Die Folgen dieser Politik sollten sich einige Jahre später bitter rächen.

[1] Ulrich Herbert; Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert; Seite 195

[2] Magnus Dellwig, Peter Langer; Oberhausen eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet; Band 2; Seite 68

[4] Hans-Ulrich Wehler; Deutsche Gesellschaftsgeschichte; Vierter Band 1914 – 1949; Seite 68

[5] Ulrich Herbert; Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert; Seite 206

[6] Staatsarchiv Oberhausen; General Anzeiger vom 10. Januar 1923; „Das Schicksal erfüllt sich“

[7] Zitiert in Ursprünge und Entwicklungen der Stadt Oberhausen; Quellen und Forschungen zur Stadtgeschichte; Band 3; Seite 97

[8] Michael Wildt; Generation des Unbedingten – Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes; Seite 138)



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