Wie lange dauert ein Krieg eigentlich wirklich?


Geschichtlicher Abriß (1871 – 1945)

Familiengeschichte und Ahnenforschung als Teil des Projektes

Weit verzweigte Familienwurzeln

 „Das Einzige, was Menschen Ewigkeit verleiht, ist nicht die Geschichte, sondern eine Geschichte, die man erzählt.“

(Aus dem Gilgamesch Epos)

Meine Betrachtungen zum Leben meines Großvaters Richard Göbel (1913-1945) werden erweitert um die Ergänzungen zur Geschichte des Deutschen Kaiserreichs. Ein Verständnis der geschichtlichen Entwicklungen hin zum Ersten Weltkrieg, der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus sind nur mit Kenntnis der politischen und gesellschaftlichen Strömungen des Kaiserreichs möglich.

Richards Eltern Heinrich (geb. 1882) und Anna (geb. 1883) waren Kinder des 1871 gegründeten Deutschen Kaiserreichs. Richards Vorfahren väterlicherseits stammten aus Baumbach in Hessen. Die Wurzeln lassen sich bis zum 30jährigen Krieg in diese Gegend um Rotenburg und Bad Hersfeld ermitteln. Richards Großvater Johann war etwa 1862, mit mehreren seiner Geschwister, nach Langendreer/Bochum ausgewandert. Vermutlich um sein Glück als Bergmann zu versuchen. Johann Heinrich starb bereits 1885 im Alter von gerade einmal 42 Jahren, als sein Sohn Heinrich 3 Jahre alt war. Richards Vater Heinrich hat sich trotz des frühen Todes seines Elternteils durch Fleiß und Strebsamkeit, durch den Besuch von Abend- und Wochendschulen, in einen angesehenen kaufmännischen Beruf hochgearbeitet. Seit 1910 arbeitete er bei der Gutehoffnungshütte (GHH) in Oberhausen, Mitte der 20iger Jahre wurde er schließlich Revisor.

Die Vorfahren von Richards Mutter Anna Göbel liegen in der Gegend um Wallenbrück/Spenge im Minden-Ravensberger Land. Anna Göbel war eine geborene Wienkamp und lebte bis zu ihrer Heirat mit Heinrich Göbel auf dem elterlichen Hof. Die Familie stand der Erweckungsbewegung im Minden-Ravensberger Land nah. Anna Göbels Großvater, Caspar Heinrich Lippelmann (1802 – 1889), war ein regional bekannter Laie der Erweckungsbewegung. Annas Mutter, Catherine Ilsebein Wienkamp (1847 – 1941), war eine geborene Lippelmann. Die Lippelmanns sind für mich sehr interessante Vorfahren im Rahmen meiner Ahnenforschungen geworden. Annas Mutter hatte 9 weitere Geschwister. Drei Brüder und eine Schwester sind in den 1850/60iger Jahren in die USA ausgewandert. Ihre Heimat fanden Sie in Cincinnati/Ohio. In der fernen Heimat kamen sie, zum Teil, zu Ansehen und Reichtum.

Herman Henry (Hermann Heinrich) Lippelmann (1831 – 1926) war einer der sechs Gründer des Zoos von Cincinnati. Nach ihm ist die Lippelman Road im Norden der Stadt benannt.

Seine Enkelin Margreth Elizabeth (1908 – 1999) war ab 1942 in dritter Ehe mit dem US Politiker und Anwalt Charles W. Sawyer (1887 – 1979) verheiratet.  Sawyer wurde 1944, im gerade von den Nationalsozialisten befreiten Belgien, US Botschafter. Nach dem Krieg wurde er 1948 US Handelsminister unter dem US Präsidenten Harry S. Truman.

Das Lippelmann Nachkommen-Netzwerk ist in den in den USA weit verzweigt.

An den Ur-Katastrophen des 20. Jahrhunderts besteht auch heute ungebremstes Interesse

Familiengeschichte ist primär ein eng abgegrenzter Kosmos, ohne direkte Verbindung zum politischen und gesellschaftlichen Kontext der jeweiligen Zeitgeschichte. Hier setzt mein Projekt an: Die Erinnerungen an die Katastrophen des 20. Jahrhunderts schwinden und viele Zeitzeugen dieser Katastrophen sind längst verstorben. Das Andenken wach zu halten, sozusagen einer „historischen Amnesie“ vorzubeugen, ist ein grosses Anliegen dieses Projektes, das versucht anhand eines individuellen Schicksals – eingebettet in eine Familienchronik – Folgegenerationen Mahnung zu sein.

Gerade wir Deutschen haben ein kompliziertes Verhältnis zu unserem 20. Jahrhundert. Die kollektive Schuld, zwei Weltkriege heraufbeschworen zu haben, hat tiefe Spuren im historischen Gedächtnis unserer Gesellschaft hinterlassen. Auch wenn nicht Soldatenfriedhöfe, sondern ein gemeinames Europa unsere Zukunft sein sollte, liegt die Vergangenheit doch schwer auf unserer deutschen Geschichte. Leider reicht der nationale Blickwinkel bei Weitem nicht aus, die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts, die so stark von uns Deutschen geprägt wurde, zu verstehen. Zu verschieden sind nationale Blickwinkel. Die Intensität und Dynamik der Veränderungen „unseres“ Jahrhunderts stellte Menschen dieser Epoche aus allen betroffenen Ländern vor außerordentliche Herausforderungen. Der Erste Weltkrieg begann vor 100 Jahren und der Zweite Weltkrieg ging vor 70 Jahren zu Ende. Als 1945 endlich Frieden in Europa einkehrte, blickten die Menschen auf einen zerstörten Kontinent. Der militärische Zusammenbruch Deutschlands und der Sieg der Alliierten spaltete in der Folge Zentraleuropa für Jahrzehnte in Ost und West. Der Wiederaufbau in Westeuropa war eine europäische Gemeinschaftsaufgabe und die Menge an Veröffentlichungen über die Zeit zwischen 1914 und 1945 zeigt das ungebremste Interesse.[1]

Das Leben meines Großvaters Richard Göbel fällt genau in diesen Zeitabschnitt. Das individuelle Schicksal eines Menschen in die geschichtlichen Leitplanken der Epoche von 1914 bis 1945 zu fügen ist schwer. Er starb am 27. April 1945 nur wenige Tage bevor die Waffen in Europa endgültig schwiegen. Seine Lebenslinien bewegten sich in jenen drei Jahrzehnten, die von zwei Weltkriegen, wirtschaftlichen Krisen und gesellschaftlichen Katastrophen in einem Ausmaß geprägt waren, wie zuvor nur zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges. Wie schon von 1618 bis 1648 stand Deutschland erneut im Mittelpunkt größter kriegerischer Auseinandersetzungen.[2] Richard Göbels 32 Lebensjahre umfassen auch den ersten Versuch eine Demokratie auf deutschem Boden zu installieren und Aufstieg und Fall der nationalsozialistischen Diktatur. Eine Zeitspanne, die uns noch heute betroffen macht und deren Aufarbeitung im historischen und aktuellen Kontext brennender denn je ist. Als Folge zweier Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts blieb schließlich ein Eiserner Vorhang. Der ständige Ost/West Konflikt barg die Gefahr, dass sich der Kalte Krieg in eine neue militärische Auseinandersetzung und damit einen Dritten Weltkrieg entwickeln würde. Die tiefgreifende Spaltung der politischen und gesellschaftlichen Struktur Europas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte ihren Ursprung in den knapp 30 Jahren zwischen 1914 und 1945 und richtigerweise nennt Ian Kershaw seinen 2015 erschienen Buchtitel über das Europa von 1914 bis 1949: „to Hell and Back“

Der Erste Weltkrieg und seine langen Schatten

Zwischen der Reichsgründung 1871 bis zu den triumphalen Wahlerfolgen der Nationalsozialisten in den Jahren 1930 bis 1933 lagen gerade einmal 60 Jahre. Der Abschnitt umfaßt also etwa drei Generationen meiner Vorfahren. Die schon eingangs beschriebene Veränderungsdynamik dieser Epoche bezieht sich vor allem auf den gesellschaftlichen Kontext. Im Gegensatz zu der „statisch gebundenen und teilweise traditionserstarrten hochbürgerlichen Gesellschaft vor 1914“, befand sich die deutsche Gesellschaft vor und während des Zweiten Weltkrieges in einem völlig anderen Zustand. Das nationalsozialistische System empfand sich als „Bewegung“ und eine Art „geistige Erneuerung“. Damit verband sich ein fundamentaler Umbau der deutschen Gesellschaft „von oben“.

Während die Kriegsfolgen nach dem Ersten Weltkrieg die soziale Integrität im wesentlichen unangetastet ließen, trafen die Kriegsschluß- und Nachkriegsereignisse des Zweiten Weltkrieges auf eine in ihren Grundfesten erschütterte Gesellschaft. Die Fortentwicklung einer solchen Gesellschaft aus einer Notsituation, konnte also nicht wie 1918 auf einer im Grunde nicht in Frage gestellten gesellschaftlichen Stabilität erfolgen. Im Kaiserreich vor 1914 waren die politisch herrschenden Kräfte konservativer Natur und die politische Landschaft in einem relativ statischen Zustand. Dieser Zustand wurde gefördert durch eine – aus welchen Gründen auch immer – nicht wirklich vorhandene politische Opposition.[3]

Es ist ein Faktum, dass sich das Deutsche Reich im 19. Jahrhundert anders entfaltet hatte, als seine europäischen Nachbarn. Deutschland wurde eine der führenden Industrienationen, ohne dass sich liberale und demokratische Strukturen parallel zur wirtschaftlich prosperierenden  Entwicklung ausprägen konnten. Die schnelle Industrialisierung im 19. Jahrhundert war im Deutschen Reich nur durch eine starke Stellung des Staates möglich geworden. Durch eine straffe Organisation und über staatliche Kontrolle: Im Grunde also ein kapitalistisches Wirtschaftsprinzip in Verbindung mit einer autoritären Ordnungsmacht. Ein Phänomen, dass wir im 21. Jhd. von China, Rußland, sog. Schwellenländern oder Tigerstaaten Asiens und Südamerikas kennen – mit allen gesellschaftlichen Auswirkungen die dies mit sich bringt.

Die aggressive Außenpolitik des Deutschen Reiches und eine unkluge Bündnispolitik führten aber alsbald in eine außenpolitische Sackgasse. Die Folgen dieser Isolationspolitik gipfelten schließlich in den Ersten Weltkrieg, der nach der Niederlage von 1918, für Deutschland mit einiger Verzögerung dramatische Veränderungen brachte. Der wirtschaftliche Niedergang, politisches Chaos und die Gewalt der Anfangsjahre der Weimarer Republik waren direkte Ergebnisse. Die Schuldenwirtschaft und eine Hyperinflation führten im November 1923 zu einer Währungsreform, die die bürgerliche Mittelschicht nahezu vollständig verarmen liess. Diese bürgerliche Mitte blieb orientierungslos in der noch jungen Demokratie zurück und führten in der Folge zu gesellschaftlichen Veränderungen von Innen. Die nach der Weltwirtschaftskrise 1929 einsetzende Deflation ruinierte die Gesellschaft ein zweites Mal. Für die meisten Deutschen, die die Zeit zwischen 1918 und 1933 bewußt erlebt haben, lag über der jungen Republik von Weimar nicht der lange Schatten des Kaiserreiches, sondern der des Diktates von Versailles nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg.

Die Folgen des Nationalsozialismus

Aus diesem langen Schatten heraus, begann in den Jahren ab 1923 der Aufstieg der kleinen, zunächst nur lokal bekannten NSDAP, unter ihrem Führer Adolf Hitler. Von der bayerischen Landeshauptstadt München aus errang Hitler innerhalb von nur 10 Jahren schließlich die Macht in Deutschland. Die nationalsozialistische Gewaltdiktatur bildete den dritten Akt und Abschluss der Phase zwischen 1914 und 1945. Der Nationalsozialismus brachte nach einer kurzen Phase der scheinbaren äußeren und inneren Festigung, schließlich den Zweiten Weltkrieg. Hitlers Aufstieg gipfelte mitten in Europa in einen totalen Weltkrieg. Der aus der breiten Mitte der Gesellschaft entsprungene Nationalsozialismus brachte Terror gegen ganze Volksgruppen, eine Vernichtung des Großteils der europäischen Juden und die Verfolgung und Tötung von Minderheiten. Ist ein Krieg schon qua Ereignis stets ein Raum von Gewalt und Unbarmherzigkeit, hatte der von Hitler gewollte „totale Krieg“ neben einer militärischen Auseinandersetzung zusätzlich noch eine vernichtend-ideologische Komponente. Das Vertrauen in die Zivilisation, Moral und das geistige Erbe des Abendlandes gingen verloren.

Der Zweite Weltkrieg verursachte eine der größten Katastrophen, die jemals über Europa hereingebrochen ist. Nahezu 60 Millionen Menschen verloren ihr Leben. Städte, weite Landstriche und unersetzbares Kulturgut wurden zerstört. Mögen solche Erfahrungen für uns und unsere Kinder Geschichte bleiben!

Viel Spass und nachdenkliche Augenblicke beim Stöbern auf dieser Website.

[1] Ulrich Herbert; Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert; Seiten 11-21

[2] Heinrich August Winkler; Geschichte des Westens – Die Zeit der Weltkriege 1914 – 1945; Seite 11

[3] Prof. Helmut Schelsky; Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart; Seiten 79 – 81 und 83 – 84



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